„Ich kann nicht einfach aufgeben“ – inmitten des Ukraine-Krieges kämpft Yulia für die Tuberkulose-Versorgung

24 März 2023

Yulia setzt sich als Sozialarbeiterin für die Bekämpfung von Tuberkulose im ukrainischen Charkiw ein. In ihrer Arbeit für die gemeinnützige Organisation 100% Life, eine Partnerorganisation des Globalen Fonds, sucht sie den direkten Kontakt mit den Gemeinden, um die Prävention, Diagnose und Behandlung von TB voranzutreiben. Ihre größte Motivation ist ihre 6-jährige Tochter Yaroslava.

In Charkiw birgt jeder Tag neue Herausforderungen.

Noch vor wenigen Wochen trafen uns zehn Raketen in nur einer Nacht. Über Nacht wurden wir von der Strom-, Wasser und Wärmeversorgung abgeschnitten, und hatten keinen Zugang mehr zum Handynetz und Internet.

Am nächsten Morgen musste ich eine Stunde zu Fuß ins Büro gehen, um meine Unterlagen abzuholen, die ich brauche, um von zu Hause zu arbeiten. Auf der Suche nach Handynetz, um meine Klient*innen zu kontaktieren, lief ich quer durch das Stadtzentrum. Ich wollte wissen, ob sie sich in Sicherheit  befanden und mit ausreichend TB-Medikamenten versorgt waren, sodass ihre Behandlung nicht unterbrochen werden muss. Der Strom kehrte erst 48 Stunden später zurück.

Der Tag war lang und anstrengend – wie so viele seitdem der Krieg unser Land in Atem hält.

Ein Jahr ist nun seit Kriegsbeginn vergangen. Die Menschen in Charkiw sind emotional ausgelaugt. Der andauernde Stress und die Angst, setzen ihnen zu.

Ohne Strom, Wasser und Heizung auszukommen, war im vergangenen Winter sehr hart. Aber die Generatoren, Kerzen, Taschenlampen und die relativ milden Temperaturen haben uns geholfen zu überleben.

Die Menschen hier sind zäh und können sich schnell an neue Lebensumstände anpassen. Wir haben gelernt, einen Vorrat an Wasser und Essen in Dosen zu halten. Und wir achten stets darauf, dass unsere mobilen Geräte immer geladen sind. Denn nur so können wir den Stadtplan mit „Orten der Unbezwingbarkeit“ aufrufen – so nennen wir die Schutzräume mit Heizung und Strom –, denn wir müssen jederzeit einen neuen Angriff fürchten.

All dies führt dazu, dass die Menschen hier eher mit dem Überleben beschäftigt sind, als sich um ihre Gesundheit zu sorgen. Es wird immer schwerer, sie davon zu überzeugen, sich untersuchen zu lassen, selbst wenn sie offensichtliche Krankheitssymptome haben.

Es fehlt allerdings auch an medizinischem Personal. Einige Ärzt*innen haben zu Kriegsbeginn das Land verlassen, viele sind nachvollziehbarerweise noch nicht zurückgekehrt. Diejenigen, die hiergeblieben sind, arbeiten, wie auch das restliche medizinische Personal, bis zur Erschöpfung. 

Wir wissen, dass TB in Charkiw auf dem Vormarsch ist. Ständig unter Beschuss zu stehen, löst Stress in den Menschen aus, einige leben immer noch in schlecht belüfteten Kellern, und viele haben keine ausreichende Ernährung – all dies macht die Menschen anfälliger für eine TB-Infektion.

Aber ich kann nicht einfach so aufgeben. Ich weiß, dass ich gebraucht werde.

Die Hälfte meiner Zeit verbringe ich in Krankenhäusern, um Klient*innen zu TB-Tests oder Terminen zu begleiten. Die andere Hälfte bin ich auf der Straße und rede mit den Menschen, die zu einer TB-Risikogruppe gehören könnten. Meist spreche ich sie an, während sie in einer Schlange auf eine Mahlzeit oder ein Paket mit Lebensmitteln warten und frage, ob sie Symptome haben, und falls ja, ob sie sich testen lassen würden. Das Ziel meiner Organisation 100% Life ist es, Früherkennung von TB in der Ukraine voranzutreiben und ununterbrochenen Zugang zur Behandlung sicherzustellen.

Einer meiner Klienten ist ein 29-jähriger Mann, der mit TB lebt. Um sich vor Angriffen zu schützen, verbrachte er die ersten Monate des Krieges in einem U-Bahnhof. Wahrscheinlich hat er sich in dieser Zeit mit TB infiziert. Er hat Epilepsie und erleidet fast jeden Tag Krampfanfälle. Mittlerweile wohnt er bei seiner Mutter. Sie sind beide sehr warmherzig.

Im Sommer traf ich ihn und seine Mutter das erste Mal. Sie standen damals bei einer Lebensmittelverteilstelle an. Er schien zu diesem Zeitpunkt noch gesund zu sein, aber seine Mutter erzählte mir, dass sie viel Zeit im U-Bahn-Schacht verbrachten. Ich gab ihnen meine Telefonnummer und ermunterte sie, sich zu melden, falls doch Symptome auftreten sollten. Im Januar folgte dann der Anruf; seine Mutter erzählte mir, dass ihr Sohn Fieber hätte, schwitzen und husten würde. Ich vereinbarte umgehend einen Termin zur Testung und begleitete sie ins Krankenhaus. Dort wurde der junge Mann positiv auf TB getestet. Ich bin noch heute mit beiden in Kontakt, so kann ich im Blick behalten, ob er seine Medikamente regelmäßig einnimmt, und bin nur einen Anruf entfernt, falls sie etwas brauchen. Wir helfen ihnen zum Beispiel bei der Nahrungsmittelversorgung und einmal habe ich einen Handwerker engagiert, der ihren Kühlschrank repariert hat.

Der Krieg hat hierzulande eine Gesundheitskrise ausgelöst. Es braucht enorm viel Einsatz, um die TB-Zahlen auf das Vor-Kriegs-Niveau zu senken.

Wenn ich Menschen wie diese beiden treffe, bin ich sehr dankbar, dass ich helfen kann. Das motiviert mich. Und was mich darüber hinaus ganz besonders antreibt, ist meine Tochter. Für sie wünsche ich mir eine strahlende Zukunft in einer besseren Welt.

Photo: Yulia Malyk

An meinen Arbeitstagen bringe ich sie morgens zu einer Tagesmutter und hole sie dort abends wieder ab. Im Moment hat sie kaum Freund*innen, weil so viele Kinder Charkiw verlassen haben, dass die Kindergärten geschlossen bleiben.

Als Mutter muss ich einerseits weiterarbeiten, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen, aber ich muss mich andererseits auch um meine Tochter kümmern und für ihre Sicherheit sorgen. Die Frage, wo wir uns verstecken könnten, sollten wir plötzlich unter Beschuss geraten, begleitet mich ständig.

Ich spiele oft mit dem Gedanken, Charkiw zu verlassen. Wenn ich ihn meiner Tochter gegenüber erwähne, beginnt sie zu weinen. Wir beide lieben unsere Stadt. Aber wenn sich die Situation nicht bessert, sind wir vielleicht bald gezwungen, uns ein neues Zuhause zu suchen.

In Charkiw konnte 100% Life mit der Unterstützung des Globalen Fonds seit Beginn des Krieges mehr als 800 Betroffenen zu lebenswichtiger TB-Versorgung verhelfen. Das 100% Life Netzwerk in der Region Charkiw besteht derzeit aus 94 Festangestellten und 20 Freiwilligen, darunter auch Yulia. 

Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat der Globale Fonds mehr als 25 Millionen US-Dollar investiert, um das Fortlaufen der Programme zur Prävention, Diagnose und Behandlung von HIV und TB in der Ukraine zu unterstützen. Dieser Notfallfonds wurde zusätzlich eingerichtet zu der Unterstützung über 190 Millionen US-Dollar, die die Ukraine zwischen 2020 und 2022 für den Umgang mit COVID-19 erhielt.